Für den einen war es ein ungeliebtes Kapitel in seinem Leben, für den anderen ein zeitweiliger oder gar lebenslanger Beruf: Bis zum Ende der DDR und damit auch dem Ende der Nationalen Volksarmee dienten über 2,5 Millionen DDR-Bürger in dieser Armee. Mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht begann die Parteiführung in der DDR bereits Ende der 1940er Jahre mit dem Aufbau militärischer Strukturen, zunächst als kasernierte Einheiten der Volkspolizei (Kasernierte Volkspolizei). Nach dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und der Gründung des Warschauer Paktes, dem auch die DDR angehörte, im Jahr 1955 (die beiden Militärbündnisse, die sich im Kalten Krieg gegenüberstanden) stellte die DDR mit der Gründung der Nationalen Volksarmee (NVA) im Januar 1956 ganz offiziell eine eigene Armee aus Land-, Luft- und Seestreitkräften unter der Direktive des „Bruderlandes“ Sowjetunion auf.
Der Wehrdienst war zunächst freiwillig. Ab 1962 wurde dann jedoch die Wehrpflicht für Männer im Alter von 18 bis 26 Jahren eingeführt. Frauen konnten generell freiwillig in der NVA dienen. Kurz nach dem Mauerbau, von der DDR „antifaschistischer Schutzwall“ genannt, wurden vorwiegend aus der schon vorher bestehenden Deutschen Grenzpolizei die Grenztruppen als ausgelagerte Sondereinheit der NVA formiert. Sie standen an der Westgrenze der DDR und in Berlin dem „Klassenfeind“ sozusagen Auge in Auge gegenüber, getrennt durch eine mit Minen und Selbstschussanlagen gesicherte Grenze: gesichert allerdings nicht nur gegen Eindringlinge und Provokationen aus dem Westen, sondern genauso gegen Menschen aus der eigenen Bevölkerung, die das Land durch Flucht verlassen wollten. Bei Fluchtversuchen wurde der Schusswaffengebrauch gefordert.
In dem stark militarisierten Staat wurde die Totalverweigerung des Dienstes an der Waffe, bspw. aus pazifistischen Gründen, mit einer Haftstrafe von bis zu 18 Monaten geahndet.
Tatsächlich kommt man für die späten 1980er Jahre auf fast 2 Millionen Bürger (die militärischen oder paramilitärischen Organisationen angehörten - Anm. d. Red.): 113.000 Kräfte des Ministeriums des Innern (davon ca. 60.000 Mann Deutsche Volkspolizei), 89.000 Ministerium für Staatssicherheit, 170.000 Nationale Volksarmee, 50.000 Grenztruppen, 640 Betriebskampfgruppen, 491.000 Zivile Verteidigung, ca. 150.00 Angehörige von freiwilligen Reservistenkollektiven, 6.400 Transportpolizisten und knapp 800 Angehörige der Zollverwaltung.
Matthias Rogg, Historiker
Körperliche Fitness und Agilität, bedingungslose Treue zum Staat, die Mitgliedschaft in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und ein abgeschlossener Facharbeiterberuf waren die wichtigsten Grundvoraussetzungen für eine Laufbahn als Berufsunteroffizier (BUO), da in der Nationalen Volksarmee verschiedene Ausbildungsmöglichkeiten in Betracht kamen. Wollte man zum Beispiel Funktruppenführer werden, war eine Ausbildung als Facharbeiter für Nachrichtentechnik eine solide Basis. Bereits in der neunten Klasse wurden die Jungen in den Schulklassen gedrängt sich zu entscheiden, für wie viele Jahre sie sich bei der NVA verpflichten wollten. Hatten sie sich entschlossen, die Laufbahn eines Unteroffiziers einzuschlagen, mussten sie sich per Vordruck, ergänzt durch einen Lebenslauf und die Abschrift des letzten Schulzeugnisses, beim Wehrkreiskommando bewerben, das innerhalb von zwei Monaten anhand der eingereichten Unterlagen und des Ergebnisses einer medizinischen Untersuchung die Eignung überprüfte.
Der reguläre Grundwehrdienst für Männer dauerte 18 Monate. Wollte man eine Offizierslaufbahn einschlagen oder strebte man ein Hochschulstudium an, waren drei Jahre Wehrdienst das Minimum. Außerdem war eine vormilitärische Ausbildung in der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) notwendig. Wer als Unteroffizier oder in einem höheren Dienstgrad an der Grenze dienen wollte, musste Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) sein und durfte keine Westverwandtschaft haben.
Dienst an der Grenze, von der DDR „antifaschistischer Schutzwall“ genannt. Der Staat forderte von den Soldaten der DDRGrenztruppen absolute Loyalität. Hier Soldaten bei der Patrouille an der Berliner Mauer. Blick von West-Berlin, 1971
Quelle: © Bundesstiftung Aufarbeitung / Klaus Mehner
Die Gesamtlänge der Staatsgrenze der DDR maß 2752 km, davon entfielen 1378 km auf die innerdeutsche Grenze, 161 km lang waren die Absperrungen um West-Berlin (einschließlich der Mauer) und 323 km lang war die Seegrenze in der Ostsee. Auf insgesamt 880 km verlief die Ostgrenze der DDR zu den „befreundeten“ Ländern, der damaligen Volksrepublik Polen und der damaligen ČSSR. Um die Grenze gegen jede Art von Provokationen und Bedrohungen von außen, also durch die NATO-Staaten, zu sichern und Fluchtversuche von Menschen aus der DDR zu verhindern, gab es zahlreiche Arbeitsfelder für einen Berufsunteroffizier bei den Grenztruppen der DDR. Das Wichtigste war die Absicherung der Grenzanlagen. Dazu gehörte der Funkverkehr und die Nachrichtenübermittlung von den einzelnen Grenzabschnitten zur Einsatzleitung. Zentral waren ebenfalls die Überwachung und Ausbesserung der Grenzanlagen. Es mussten Zäune erneuert, Selbstschussanlagen montiert, Signaldrähte gespannt, Mauerteile ersetzt werden und vieles mehr. Dabei wurden die Grenztruppen durch Pioniereinheiten mit den entsprechenden Maschinen unterstützt. Grenzpatrouillen absolvierten ihre Kontrollgänge mit und ohne Hund, zu Fuß oder mit dem Fahrzeug. Ein wesentlicher Schwerpunkt war die Einsatzplanung von Personal und Technik an den einzelnen Grenzabschnitten und Grenzübergängen.
Außerdem mussten Waffen, Nachrichtentechnik und Fahrzeuge gewartet und gepflegt werden, was Aufgabe der rückwärtigen Dienste war.
Grenzverletzungen mussten schriftlich, fotografisch und unter Zuhilfenahme von Messgeräten dokumentiert werden. Flüchtende Personen waren unter allen Umständen, und bis April 1989 auch mit Einsatz der Waffe, am Verlassen der DDR zu hindern.
Grenzabschnitte mit Funksprechanlage für die Übermittlung von Informationen. Im Hintergrund der Streckmetallzaun mit Signaldrähten für akustischen Alarm und Stacheldraht
Quelle: © Bundesstiftung Aufarbeitung / Uwe Gerig
Nach der entsprechenden Zusage des Wehrkreiskommandos und dem Abschluss der Facharbeiterberufsausbildung bzw. des Abiturs wurde man in die Armee einberufen, wo die Ausbildung zum Berufsunteroffizier begann. Seit 1973 gab es mit der Unteroffiziersschule „Egon Schultz“ in Perleberg einen speziellen Ausbildungsort für Unteroffiziere der Grenztruppen. Vorher lernten die Grenztruppen-Unteroffiziere an verschiedenen Unteroffiziersschulen der Landstreitkräfte. Nach Abschluss konnte man sich Pioniergruppenführer, Bootsführer für Binnengewässer, Funkmeister, Leiter einer Nachrichtenzentrale oder Zugführer etc. nennen, war qualifiziert, Soldaten niedrigerer Dienstränge zu befehligen und hatte sich evtl. auch in einem technischen Bereich besonders spezialisiert.
Die fünfmonatige Ausbildung in der Schule begann mit einer militärischen Grundausbildung. Marxismus-Leninismus und spezifisches militärisches Wissen, meist abgestimmt auf den erlernten Beruf, stand auf dem Lehrplan. Als Schirrmeister bspw. erwarb bzw. vertiefte man Fähigkeiten und Kenntnisse eines Schlossers und war dann für die Einsatzbereitschaft sämtlicher Fahrzeuge verantwortlich. Künftigen Nachrichtentechnikern wurde Fachwissen im Morsen und für die Handhabung der verschiedenen Funkgeräte vermittelt. Für den Umgang mit Hunden wurde man an der Diensthundeführerschule ausgebildet.
Nach mehreren Jahren Grenzdienst kam der BUO an die Schule zurück, um sich auf einem zweiten Unteroffizierslehrgang neues Rüstzeug für seinen militärischen Beruf zu holen. Mit dem Ende dieses zweiten Lehrgangs war die Ausbildung abgeschlossen. Berufsunteroffiziere erlangten die zivilberufliche Qualifikation eines Meisters der volkseigenen Industrie.
Der Berufsunteroffizier hatte einen Fulltime-Job im Drei-Schicht-System, er bekam jedoch auch Erholungsurlaub. Im ersten Dienstjahr waren es 24 Tage, im fünften schon 35 Tage und ab dem 16. Dienstjahr 46 Tage Urlaub pro Jahr. Außerdem erhielt er eine Wohnung, regelmäßige Weiterbildung und ein gutes Gehalt, welches vom Dienstgrad und der Anzahl der Dienstjahre abhing. Ein stellvertretender Zugführer (Oberfeldwebel, verheiratet, 2 Kinder, 5 Dienstjahre) konnte Nettobezüge in Höhe von etwa 870 Mark erhalten, enthalten darin waren Wohnungs- und Verpflegungsgeld sowie der staatliche Kinderzuschlag. Tendenz steigend.
Mit einer Weiterbildung zum Ausbilder für Soldaten und Unteroffiziere oder durch ein zweijähriges Fachschulstudium konnte man zum Fähnrich befördert werden. Die Möglichkeit einer Beförderung hing von der Dienststellung und den Mindestdienstzeiten im bisherigen Dienstgrad ab. Der höchste Unteroffiziersrang war der des Stabsfeldwebels.
An der Offiziershochschule der Grenztruppen der DDR konnten sich Unteroffiziere in einem vierjährigen Lehrgang zu Offizieren ausbilden lassen, um dann als Kommandeure und Politoffiziere eingesetzt zu werden. Diese Hochschule wurde im sächsischen Plauen aufgebaut, im Jahr 1984 aber nach Suhl in Thüringen verlegt. Auf dem Gelände der Anlage befanden sich neben Wohnmöglichkeiten, Werkstätten, Mehrzweckhäusern, Garagen und einem großen Hörsaal ein Häuserkampfobjekt, Spreng- und Schießplätze sowie eine detailgetreue Nachbildung der innerdeutschen Grenze, die als „Lehrgrenze“ diente.
Im Offizierskorps der Hochschule gab es enge Verbindungen zum Ministerium für Staatssicherheit. Der Staatssicherheit war sehr wichtig zu wissen, wer dieses Gelände beobachtete, besuchte oder sich in dessen Umkreis verdächtig machte. Außerdem überwachte sie Personen, die Kontakte zu Offizieren, Offiziersschülern und Angestellten der Offiziershochschule hatten. Das MfS baute zielgerichtet ein System Inoffizieller Mitarbeiter (IM) innerhalb der Schule auf.
Offiziersausbildung bei den Grenztruppen der DDR im 3. Ausbildungsjahr im Sprachlabor an der vom MfS unterwanderten Offiziershochschule in Suhl (Thüringen), 01.08.1983
Quelle: © ddrbildarchiv / Manfred Uhlenhut
Die DDR war ein Friedensstaat. Zumindest behauptete sie das. Gleichzeitig war sie durchdrungen von der ständigen Angst vor inneren und äußeren Feinden, was zu einer immer stärkeren Militarisierung der gesamten Gesellschaft führte. Schon im Kindergarten wurde Propaganda für die Nationale Volksarmee gemacht. Die NVA wurde von der SED geführt und handelte ganz in deren Sinne. Ab 1962 gab es eine allgemeine Wehrpflicht für Männer. 1978 wurde der Wehrkundeunterricht als Pflichtfach eingeführt, d.h. alle Schülerinnen und Schüler mussten in der 9. und 10. Klasse verpflichtend an militärischen Unterrichtseinheiten und Übungen teilnehmen. Für die Jungen bedeutete dies u.a. die Teilnahme an einem zweiwöchigen Wehrlager mit Schießübungen, Handgranatenwerfen, Gasmasken und Übungen in Uniform.
Zur Nationalen Volksarmee mit einer Kriegsstärke von 330.00 Mann (180.000 in der Friedensstärke) kamen noch die ca. 200.000 Mann starken Kampfgruppen der Arbeiterklasse und die freiwilligen Helfer zur Unterstützung der Grenztruppen hinzu, deren Primäraufgabe es war, Fluchtversuche aufzudecken und zu vereiteln. Die DDR gab Mitte der 1960er Jahre 15% und Mitte der 1980er Jahre immer noch 11% ihres Staatshaushalts für die bewaffneten Organe (NVA, Polizei und Ministerium für Staatssicherheit) aus.
Der Bau der Mauer 1961 und ihr Ausbau war ein teures Unterfangen, das allein von 1961-1964 1,822 Mrd. Mark der DDR kostete und ein dauerhafter Ausgabenposten für die DDR-Regierung wurde.
Sie bestand aus: Metallgitterzaun: 1083 km
doppeltem Stacheldrahtzaun: 316 km
Schutzstreifenzaun: 788 km
Minenfelder: 491 km
Selbstschussanlagen: 248 km
Betonsperrmauer/Sichtblenden: 8 km
Kraftfahrzeuggraben unbetoniert: 739 km
Kraftfahrzeuggraben betoniert: 478 km
Lichtsperren: 212 km
Hundelaufanlagen: 224 km
Erdbunker: 939 (davon mit Betonfertigteilen 717)
Beobachtungs- und Wachtürme: 392
Beobachtungsstände: 67
Obwohl die DDR die Bundesrepublik für ihre Rüstungsexporte kritisierte, steigerte sie, besonders um Devisen zu generieren, ihre eigenen Ausfuhren von Militärtechnik in Entwicklungsländer stetig. Laut einer Studie des Ingenieurtechnischen Außenhandels (ITA) der NVA wurden im Zeitraum 1975-1980 Rüstungsgüter in Höhe von etwa 204 Mio. Westmark in Entwicklungsländer exportiert.
Eine weitere perfide Möglichkeit zur Devisenbeschaffung war der sogenannte Häftlingsfreikauf. Menschen, die wegen Republikflucht oder politischem Widerstand verurteilt waren und in den zahlreichen DDR-Haftanstalten saßen, wurden für Devisen an die BRD „verkauft“. Das brachte der DDR von 1963 bis 1989 fast 3,5 Milliarden D-Mark ein. Insgesamt gewannen so 33.755 Menschen ihre Freiheit wieder. Der Preis pro freigekauftem Häftling lag bis 1977 bei 40.000 DM und stieg danach auf 95.847 DM.
Das Geld, das für die enormen Kosten, die Militarisierung und Grenzanlagen verursachten, ausgegeben wurde, fehlte an anderer Stelle, z.B. für Investitionen in moderne Technologien in der Wirtschaft, im Wohnungsbau und vielen weiteren Branchen.
Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse, auch Betriebskampfgruppen genannt, waren eine paramilitärische Organisationvon Beschäftigten in Betrieben der DDR. Durch sie sollte die Diktatur des Proletariats in der DDR auch militärisch manifestiert werden. Hier beim Aufmarsch zum Nationalfeiertag in Ost-Berlin am 07. Oktober 1981
Quelle: © Bundesstiftung Aufarbeitung / Harald Schmitt
Im Zuge der Wiedervereinigung galt es auch, zwei Armeen zu fusionieren. Bereits im Laufe des Jahres 1990 hatte die NVA massiv Personal abgebaut, so dass am Tag der Wiedervereinigung, dem 3. Oktober 1990, noch 89.000 Soldaten in die Bundeswehr übernommen wurden, nur die politisch unbelasteten und nur Männer. Denn das Grundgesetz der BRD besagte in einem Paragrafen von 1955, dass Frauen vom Dienst an der Waffe ausgeschlossen waren und beschnitt somit die Gleichstellung der Frau in der Armee, anders als in der DDR, wo ca. 2000 Soldatinnen in der NVA bis 1989 Dienst taten. Ab 1991 konnten Frauen in der Bundeswehr im medizinischen Bereich oder im Militärmusikdienst arbeiten. Erst seit 2001 steht ihnen durch eine Änderung im Grundgesetz jede mögliche militärische Laufbahn offen, sie dürfen jedoch auf keinen Fall zum Dienst an der Waffe verpflichtet werden. Am 1. Januar 2001 traten daraufhin 151 Frauen beim Heer, 76 bei der Luftwaffe und 17 bei der Marine ihren Dienst an. Heute gibt es über 24.000 Frauen in der Bundeswehr.
Berufssoldaten der NVA, die älter als 55 Jahre waren und Offiziere in den höheren Rängen wurden im Zuge der Übernahme entlassen. Viele der verbliebenen Offiziere wurden degradiert.
Die Waffen der am besten ausgestatteten Armee des Warschauer Pakts (gezählt wurden am Tag der Wiedervereinigung 1.700.000 Stück sowie 300.000t Munition und 2300 Kampfpanzer) wurden bereits vor der Wiedervereinigung von der Noch-DDR-Regierung verramscht. Mehr als 44 Staaten, darunter 11 NATO-Länder, gaben Anfragen für Waffenlieferungen auf. Schiffe der Volksmarine gingen nach Indonesien, Hubschrauber, Handfeuerwaffen und Panzer wurden über den ganzen Globus verteilt und Waffenschmuggel an politische und militärische Gruppierungen, die eigentlich keine Waffen erhalten sollten, war kaum zu vermeiden.
Kurz vor der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten müssen auch die beiden Armeen auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Ein NVA-Offizier und ein Soldat der Bundeswehr während einer Übung am 18.09.1990 nahe der Infanterieschule der Bundeswehr in Hammelburg im Landkreis Bad Kissingen, BRD
Quelle: © IMAGO / Rolf Hayo
Die Mauer und die Toten
Die DDR hatte 16,7 Mio. Einwohner (Stand 1983). Davon verließen von 1949 bis 1988 ca. 2,7 Mio. Menschen das Land. 383.181 Personen stellten erfolgreich Ausreiseanträge und 250.000 Anträge auf Familienzusammenführung mit Angehörigen in der Bundesrepublik wurden genehmigt. Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 bis einschließlich 1988 gelang 40.101 Menschen die Flucht über die Grenzbefestigungen an der innerdeutschen Grenze, 178.182 flüchteten über Drittländer. 75.000 Menschen wurden während ihrer Flucht festgenommen und zu Haftstrafen wegen Republikflucht verurteilt.
Insgesamt wurden an der innerdeutschen Grenze ca. 1.000 Menschen bei ihrem Fluchtversuch getötet, davon 189 allein bei der Flucht über die Ostsee und mindestens 101 Menschen an der Berliner Mauer. Das älteste Todesopfer war Olga Segler, 80 Jahre, gestorben am 25. September 1961 nach einem Sprung aus dem Fenster ihres Hauses in der Bernauer Straße nach West-Berlin. Das jüngste Todesopfer war Jörg Hartmann, 10 Jahre, der mit seinem Freund am 14. März 1966 beim Spielen in Dunkelheit im Grenzgebiet Berlin-Treptow erschossen wurde. Weltweit Aufsehen erregte der Tod von Peter Fechner, 18 Jahre, der von 35(!) Kugeln getroffen wurde und im Grenzstreifen verblutete. Zahlreiche West-Berliner Augenzeugen mussten zusehen, wie Peter starb und konnten nicht helfen. Das letzte Todesopfer an der Mauer, Chris Gueffroy, 20 Jahre, wurde beim Überqueren des Britzer Kanals am 5. Februar 1989, 9 Monate vorm Ende der DDR, von 2 Kugeln tödlich getroffen.
Nicht in diesen Statistiken enthalten sind Menschen aus West-Berlin oder aus der BRD, die beim Eintritt in das Staatsgebiet der DDR getötet wurden und auch nicht jene, die durch das Leid, das diese Mauer in ihr Leben brachte, Suizid begangen haben.
Das letzte Opfer des Schießbefehls an der Staatsgrenze der DDR steht exemplarisch für die vielen weiteren Todesopfer. Chris Gueffroy starb mit 20 Jahren in der Nacht zum 06. Februar 1989 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer durch Schüsse von Grenzposten. Die Beisetzung fand auf dem Friedhof am Baumschulenweg in Berlin statt. Ein Großaufgebot von Kräften des Ministeriums für Staatssicherheit und der Volkspolizei schirmte die Trauernden vor möglicher Berichterstattung ab. Foto: Trauergemeinde, in der Mitte die Mutter Karin Gueffroy.
Quelle: © Bundesstiftung Aufarbeitung / Klaus Mehner
Die Öffnung der Mauer
Noch zwei Tage vor Öffnung der Mauer hätte niemand – weder im Osten noch im Westen – damit gerechnet, dass das jemals passieren würde.
Die DDR lag in den letzten Atemzügen. Wirtschaftlich war sie am Boden. Ermutigt durch das sich verändernde politische Klima in anderen osteuropäischen Staaten, unterstützt und beschleunigt durch die Politik der Perestroika Michail Gorbatschows in der Sowjetunion, erstarkte auch in der DDR die unabhängige Bürgerrechtsbewegung. Ausdruck dessen war die Überwachung der Stimmenauszählung der im Mai 1989 abgehaltenen Kommunalwahlen in Berlin und anderen Städten durch mutige DDR-Bürgerinnen und -Bürger, die so den Wahlbetrug der SED aufdeckten. Der ehemals feste Bund zwischen der DDR und dem großen „Bruderland“ Sowjetunion wurde brüchig. Im gesamten Ostblock fanden große politische Umwälzungen statt. Der Eiserne Vorhang zerbröckelte durch die Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich im Frühjahr 1989 und mehr als 25.000 DDR-Bürger flüchteten auf diesem Weg aus der Diktatur.
Gleichzeitig demonstrierten immer mehr Menschen öffentlich und friedlich für Meinungs- und Reisefreiheit und vor allem für Demokratie. Am 4. September 1989 fand in Leipzig nach einem Friedensgebet in der dortigen Nikolaikirche die erste der Montagsdemonstrationen statt, der im Verlauf des Herbstes weitere folgen sollten. Immer mehr Menschen ließen sich mobilisieren. Schließlich liefen mehrere hunderttausend Menschen durch die Straßen vieler Städte. Zu Beginn von der Volkspolizei noch weggedrängt und niedergeknüppelt, ließ die DDR-Regierung diese Demonstrationen bald gewähren. Der SED-Chef und Staatsratsvorsitzende (das höchste politische Amt in der DDR) Erich Honecker trat zurück. Unter dem neu eingesetzten Partei- und Regierungschef Egon Krenz sollten die Reiseregelungen geändert und gesetzlich beschlossen werden, das den DDR-Bürgerinnen und -Bürgern grundsätzlich Privatreisen in das westliche Ausland gestattet würden. So wollte man versuchen, die erhitzten Gemüter der DDR-Bevölkerung zu beruhigen. Auf der, heute weltberühmten, Pressekonferenz am 09. November 1989 im Internationalen Pressezentrum in Berlin wurde Günter Schabowski, der gerade auf den neu geschaffenen Posten des Sekretärs für Informationswesen beim Zentralkomitee der SED (vergleichbar etwa der Funktion eines Regierungssprechers) gehievt worden war, von einem italienischen Journalisten nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Reiseregelungen, die Reisen in die Bundesrepublik und nach Westberlin ohne das Vorliegen irgendwelcher Voraussetzungen und Bedingungen ermöglichen würden, gefragt. Er antwortete mit den Worten: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Die Pressekonferenz wurde live übertragen. Westliche Nachrichtenagenturen und Fernsehsender, die in den meisten Teilen der DDR empfangen werden konnten, berichteten daraufhin, dass die DDR mit sofortiger Wirkung ihre Grenzen zur Bundesrepublik und nach West-Berlin öffnen würde. Die DDR-Bürger begriffen schnell, dass hier offensichtlich eine historische Wende beginnt und begaben sich zu den zahlreichen Grenzübergängen, zunächst in Ost-Berlin, um zu sehen, was nun passiert. Die Grenzbeamten waren noch nicht informiert, denn offiziell sollten diese Regelungen erst am 10.11.1989 in Kraft treten. Mehrere tausend Menschen beriefen sich auf die Aussagen in den Medien und forderten lautstark die Öffnung der Grenze. Die Grenzübergangsstelle (GÜSt) Bornholmer Straße öffnete gegen 22h ihren Schlagbaum und bis kurz nach Mitternacht folgten ihr alle weiteren GÜSt von Berlin und viele andere an der innerdeutschen Grenze. Ohne Blutvergießen und ohne Waffengewalt hatten die Menschen ihre Freiheit erstritten und die scheinbar unüberwindbare Grenze zu Fall gebracht! Die Maueröffnung war eines der bedeutendsten Ereignisse während der Friedlichen Revolution, die zur Überwindung der sozialistischen Machtverhältnisse in der DDR führte.
Ein weltweit einzigartiges Erlebnis: Der Fall der innerdeutschen Grenze und das Ende der DDR 1989. Menschenmassen auf und vor der Berliner Mauer am Brandenburger Tor am 10.11.1989 von West-Berlin aus fotografiert
Quelle: © IMAGO / Image Broker
#6 Hans: Bakschisch-Republik-Flucht